Im Konflikt hilft der rationale Diskurs allein nicht weiter

 
 

 

Im Streit Sachlichkeit zu fordern, hilft nicht – sagt auch der Konfliktberater Daniel Remigius Auf der Mauer. Er verrät, was es wirklich braucht.

Gutes Zusammenleben zeichnet sich dadurch aus, dass wir in der Lage sind, mit Konflikten gut umzugehen. Diese Ansicht vertritt der Schweizer Konfliktberater Daniel Remigius Auf der Mauer. Er sagt: Im hitzigen Streit könne es im Gehirn leicht zu einem Kurzschluss kommen. Nicht nur Streitende, sondern auch die Gesellschaft müsse lernen, die eigenen Emotionen besser zu verarbeiten.

Herr Auf der Mauer, wir lieben Harmonie und hassen Konflikte. Kommt es doch einmal zum Streit, wollen wir diesen möglichst schnell aus der Welt schaffen. Doch häufig klappt das nicht. Warum?

Daniel Remigius Auf der Mauer: Weil uns meist nicht klar ist, was in uns abläuft. Wir vergessen gerne, dass wir biologische Wesen sind und unser ganzes Erleben im Nervensystem stattfindet. Deshalb ist bei Konflikten die Neurobiologie ausschlaggebend.

Was erklärt uns die Neurobiologie des Konflikts?

Eine entscheidende Rolle spielen die Emotionen: Sie sind Antwortmuster, die von der Evolution in Jahrmillionen optimiert wurden. Sie zeigen dem Organismus, dass irgendein Ereignis sehr wichtig ist. Zugleich strukturieren die Emotionen unser ganzes Verhalten von der Ebene der Zellen bis zum sozialen Ausdruck, etwa im Weinen oder Schreien, was der Umgebung signalisiert: Hier geht es um etwas Wichtiges. Dabei läuft das ganz automatisch ab, wir können das also nur begrenzt steuern.

Aber im Alltag kann ich meine Emotionen doch einigermaßen kontrollieren.

Im Normalfall geht das. Aber in Konfliktsituationen geht das nicht mehr. Dann ist die emotionale Aktivierung größer, als es das Nervensystem verdauen oder »metabolisieren«, also umwandeln kann. Und dann ergreift der Organismus bestimmte Notfallmaßnahmen: Zum einen schalten einige evolutionär moderne Hirnregionen ab. Das ist, wie wenn sie zu Hause zu viele Elektrogeräte gleichzeitig an das Stromnetz anschließen: dann fliegt die Sicherung raus. So etwas Ähnliches passiert auch im Gehirn. Wird die neuronale Schnittstelle überladen, gehen die Hirnregionen für rationales Denken oder Empathie sozusagen offline.

Da hilft es dann wenig zu sagen: »Nun bleib doch mal sachlich«?

Genau. Wer emotional überladen ist, kann gar nicht sachlich denken – nicht, weil der- oder diejenige grundsätzlich unfähig dazu wäre, sondern weil die entsprechenden Hirnareale offline sind. Ratschläge wie »Bleib doch sachlich!« oder »Tu mal dies oder jenes!« sorgen in solchen Situationen sogar noch für zusätzlichen emotionalen Druck. Hinzu kommt, dass im Notfallmodus die Selbstwahrnehmung unterdrückt wird, der- oder diejenige kann sich also selbst nicht mehr gut spüren. Und die emotionale Intensität wird gerne nach außen verlagert, um sie abzubauen – das nennt sich Projektion. Dann heißt es: Das ist alles DEINE Schuld!

Ein Konflikt ist demnach der Versuch, eine emotionale Überlast irgendwie zu bewältigen?

Ja. Das Problem ist in der Regel, dass bei einem Konflikt die emotionale Wucht so groß ist, dass sich nun das Gegenüber angegriffen und emotional überwältigt fühlt. Und wenn sich zwei emotional überforderte Parteien gegenüberstehen, läuft nichts mehr. Dann ist Verständigung nicht mehr möglich.

Wie kann man besser mit solchen Situationen umgehen?

Das Erste wäre, zu merken, wann etwas nicht mehr geht. Wenn auf beiden Seiten zu viel emotionale Aktivierung da ist, kann man sagen: Wir brauchen eine Pause. Oder: Wir schaffen das nicht zu zweit und holen uns Hilfe von außen. Das gilt für den Notfall.

Und wenn ich den Konflikt ohne Hilfe von außen lösen will?

Entscheidend ist, auf die Emotionen des anderen nicht selbst mit emotionaler Überforderung zu reagieren, sondern die eigenen Emotionen verarbeiten zu können. Ich vergleiche das gerne mit dem Kochen von Nudeln, wenn das Wasser überkocht. Man kann dann versuchen, den Deckel fest auf den Topf zu drücken, damit das Wasser nicht übersprudelt. Aber dadurch steigt der Druck ja noch mehr. Deshalb müssen wir lernen, die Hitze zu reduzieren.

Klingt gut, aber wie kann man das lernen?

Das braucht Übung. Man braucht einen guten Zugang zu den eigenen Emotionen und muss lernen, sich selbst auch in schwierigeren Situationen spüren zu können, ohne dass es im Gehirn zu einem Kurzschluss kommt. Das kann man zum Beispiel in der Meditation üben.

Was kann jemand tun, der nicht jahrelang meditiert hat?

Es gibt auch hilfreiche Techniken, die man im Gespräch einsetzen kann. Etwa der »Loop of Common Sense«, der Kreislauf der gemeinsamen Erfahrung: Immer wieder zurückzufragen und zu wiederholen, was der andere gesagt hat. Das mache ich auch als Konfliktberater ...

Wenn ich jetzt zu Ihnen käme und von einem Streit mit meiner Frau berichten würde ...

Dann würde ich nach kurzer Zeit einhaken und sagen: Okay, ich habe gehört, dass Sie eine Frau haben. Ja genau, sagen Sie, ich habe eine Frau, das stimmt – und gestern hat sie das und jenes gemacht. Dann sage ich: Moment, bei mir kommt an, dass sie gestern eine schwierige Situation hatten. Ja, antworten Sie, das stimmt, das war für mich schwer ... Dabei geht es nicht darum, den genauen Hergang der Sache zu verstehen. Es geht vielmehr darum, das emotionale Erleben des anderen in sich abzubilden. Wenn das der andere merkt, hat das eine extrem beruhigende Wirkung. Denn er fühlt sich verstanden und nicht mehr allein.

Der Konflikt ist dadurch ja aber noch nicht gelöst?

Nein, aber die Atmosphäre verändert sich und der emotionale Druck sinkt. Und plötzlich gehen die Schultern runter, die Anspannung nimmt ab, der Blick wird wieder klar. Und das wirklich Verblüffende ist: Ist der emotionale Druck erst einmal weg, entstehen oft ganz von selbst Lösungen. Denn eigentlich sind Menschen enorm lösungsfähig. Nur verschwindet diese Fähigkeit, wenn die emotionale Überwältigung zu groß wird. Statt auf Lösungen fixiert zu sein, ist es daher hilfreicher, dem Gegenüber zu helfen, seine Emotionen zu verarbeiten. Dann kommen die Menschen von selbst auf Ideen.

Sie schlagen als Konfliktmediator also gar keine Lösungen vor?

Nein. Ich helfe meinen Klienten nur, die emotionale Intensität zu regulieren. Gelingt das, sind die Menschen von selbst lösungsfähig.

Klingt verblüffend einfach.

Das geht aber nur, wenn ich als Konfliktberater gelernt habe, mich selbst so gut wahrzunehmen, dass ich ruhig bleiben und atmen kann. Das ist wie im Flugzeug, wenn plötzlich der Luftdruck abnimmt und die Sauerstoff-Masken runterfallen: zuerst muss ich die eigene Maske anziehen, bevor ich anderen helfen kann. Deshalb üben wir in unseren Trainings auch die eigene körperliche Wahrnehmung. Etwa zu merken: Aha, wenn das Gegenüber so aggressiv ist, bin ich total angespannt. Wenn ich dann entspannen kann, beginnt oft auch der andere zu entspannen.

Die Entspannung überträgt sich von einer Person zur anderen?

Ja, das ist das Faszinierende. Ich vergleiche unsere emotionale Metabolisierungskapazität gerne mit einer Badewanne, die bei manchen breiter, bei anderen enger ist. Fällt ein Stein rein, schwappt eine enge Badewanne schnell über, die Wellen schlagen gegen die Wände. Wenn aber jemand mit einer größeren Badewanne andockt, laufen die Wellen da rein und ebben sanft ab. So beein- flussen wir uns gegenseitig und drehen die emotionale »Hitze« herunter. Und ein professioneller Konfliktberater, der das viele Jahre geübt hat, kommt mit einem ganzen Swimmingpool und kann auch große Wellen aufnehmen.

Warum fällt uns diese Art von Emotionsmanagement so schwer?

In unserer Kultur setzen wir generell stark auf kognitives Wissen, auch in unserem Bildungssystem. Die Auseinandersetzung mit emotionaler Intensität dagegen lernen wir kaum mehr. Davon sind wir fast alle überfordert. Das war in früheren Kulturen zum Teil anders; da fand die emotionale Verarbeitung oft auch über spirituelle Praktiken statt. Doch die haben wir in der Moderne über Bord geworfen. Hinzu kommt, dass wir heute mit Informationen so überschwemmt werden, dass wir permanent emotional überfordert sind. Da wird es schwer mit der emotionalen Metabolisierung.

Stichwort Gesellschaft: Lässt sich Ihre Art der Konfliktverarbeitung auch auf Kollektive oder ganze Gesellschaften übertragen?

Ich denke schon. Viele Gegenwartskonflikte resultieren daraus, dass uns keine emotionale Integration gelingt. Das hat sich auch während der Corona-Zeit gezeigt: Da ist so viel emotionales »Wasser« hochgekocht, dass wir nicht mehr genug Deckel zum Zuhalten hatten. Und alle Seiten waren emotional überfordert: Die einen hatten Angst vor dem Impfen und den Nebenwirkungen, hatten vielleicht auch ein Misstrauen gegenüber einer staatlichen Autorität, die so einen Eingriff in den Körper verlangte; die anderen hatten Angst vor dem Virus und vor organischen Krankheitsprozessen. Und kaum jemand hat diese Ängste und Emotionen aufgegriffen und gesellschaftlich verarbeitet. Alle wollten nur, dass die jeweils andere Seite endlich aufhört mit ihren Argumenten.

Hätte das die Politik stärker adressieren müssen? Hätte es geholfen, wenn diese emotionale Überforderung im öffentlichen Raum mehr thematisiert und anerkannt worden wäre?

Das hätte sicher geholfen. Es geht aber nicht nur darum, was Politik sagt. Der rationale Diskurs allein hilft nicht weiter. Wichtiger ist die emotionale Verarbeitung. Ein gutes Beispiel dafür gab es nach der Ermordung von George Floyd in den USA: Da zogen viele wütende Afroamerikaner durch die Städte und randalierten. Meist versuchte die Polizei, diese Wut einfach zu unterdrücken. Aber in Miami haben sich Polizisten vor einem Demonstrationszug einmal hingekniet, so wie der schwarze Footballspieler Colin Kaepernick, der während der Nationalhymne kniete, um an die Unterdrückung der Afroamerikaner zu erinnern. Dieses Symbol haben die weißen Polizisten übernommen und den Demonstranten gezeigt: Wir verstehen euren Schmerz. Das hat die gesamte Aggression aus der Situation genommen. Emotionale Metabolisierung kann also auch kollektiv funktionieren. Wenn das eine Kollektiv den Schmerz des anderen abbilden kann, entsteht Heilung.

Für solche kollektiven Prozesse fehlt es aber nicht nur an Verständnis, sondern auch an Institutionen. Wer könnte das leisten?

Das ist eine wichtige Frage. Politiker können das manchmal punktuell leisten – Barack Obama hat zum Beispiel nach einem Amoklauf an einer Schule einmal vor den Kameras begonnen zu weinen. Das heißt, er hat als politische Führungsfigur den tief sitzenden kollektiven Schmerz zum Ausdruck gebracht und verarbeitet. Aber natürlich kann das nicht eine einzelne Person für eine ganze Nation leisten. Deshalb gab es ja in früheren Kulturen oft zwei getrennte Führungsfunktionen, den König und den Schamanen: Könige standen für das ordnende Prinzip, waren vor allem mit praktischen, organisatorischen Fragen beschäftigt, Schamanen waren für emotionale Integration zuständig. Aber solche »Schamanen« haben wir eben heute nicht mehr, auch die Kirche füllt diese Rolle nicht mehr glaubwürdig aus. Die Frage, wie man so etwas kollektiv und gesellschaftlich organisieren könnte, beschäftigt mich derzeit sehr. Denn wir brauchen dringend kollektive Räume, in denen wir die emotionale Intensität verarbeiten können – auch, damit sich nicht dauernd vergangene Traumata wiederholen.

Gilt das eventuell auch für den Ukraine-Krieg? Holt uns auch da die Vergangenheit ein?

Kann man so sagen. Wenn Sie zum Beispiel Putins Pressekonferenz anschauen, als er den Krieg ankündigte, sehen Sie einen Mann, der in einer tiefen Trauer um die Vergangenheits-Wunden seines Landes ist. Der scheint emotional richtig gequält. Und das hat auch mit der Vorgeschichte zu tun: mit dem Zweiten Weltkrieg und wie der Westen mit Russland umgegangen ist.

Verstehen Sie Putin?

Moment! Ich sage nur, dass es Gründe gibt, warum es der russischen Seele so geht, wie es ihr geht. Und dass das mehr mit uns zu tun hat, als wir möchten. Aber das heißt nicht, dass wir Putins Aggression durchgehen lassen. Natürlich muss man sich wehren und sagen: Stopp, so geht es nicht. Das gilt übrigens für jede gesunde Streitkultur: Die Kunst besteht darin, den anderen emotional zu verstehen UND gleichzeitig zu sagen: Stopp, was du da machst, ist nicht okay für mich.

Ich muss bei allem Verständnis für den anderen auch immer meine eigenen Grenzen im Blick haben?

Richtig. Häufig gibt es, gerade in alternativen Kreisen, eine falsch verstandene Toleranz, die anderen erlaubt, ständig Grenzen zu überschreiten. Das geht nicht. Man muss klar sagen, was man nicht will. Und zugleich sollten wir versuchen, die Verbindung zum anderen in angemessenem Abstand aufrechtzuerhalten. Verbindung läuft eben nicht nur über rationalen Diskurs, sondern über die ganz körperliche Fähigkeit, emotionale Intensität zu metabolisieren – meine eigene, wie auch diejenige von anderen. Das ist die Kunst.


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