Gemeinsamen Boden finden

Interview: Mike Kauschke / Evolve Magazin


 

“Im Kern von jedem Konflikt liegt eine emotionale Überwältigung”

Daniel Remigius Auf der Mauer vermittelt einen Umgang mit Konflikten, der die Überwältigung unseres Nervensystems einbezieht. Erst wenn wir lernen, unsere Emotionen nachhaltig zu verarbeiten, so erklärt er, sind wir bereit für regenerative Lösungen.

evolve: Worin siehst du die Gründe für die individuellen und sozialen Konflikte unserer Zeit?

Daniel Remigius Auf der Mauer: Konfliktverhalten ist eine Krise des Nervensystems. Im Kern jedes Konfliktverhaltens liegt eine emotionale Überwältigung. Es geht in einem Konflikt natürlich auch um Inhalte. Der Grund aber, warum wir bei einem inhaltlichen Thema nicht gemeinsam handlungsfähig sind, ist die emotionale Überwältigung.

Wenn ich Mediationsprozesse oder Trainings begleite, geben wir einander nie praktische Tipps. Sondern wir schauen, wie ich dich darin unterstützen kann, dass sich deine emotionale Überwältigung in dich integriert. Denn wenn Menschen nicht mehr emotional überwältigt sind, werden sie lösungsfähig. Heutzutage sehen wir so viel Polarisierung, weil über lange Zeit die emotionale Tiefenstruktur von Konflikten nicht beachtet und nicht integriert wurde.

e: Wie können wir diese inneren emotionalen Zustände integrieren?

Daniel: Zunächst ist es die verkörperte Fähigkeit für Präsenz. Der erste Schritt besteht darin, dass ich, wenn wir zwei hier sitzen, in mir bemerke, was emotional in mir auftaucht. Erst dann habe ich in einem zweiten Schritt den Raum in mir, um dich abzubilden: Wie geht es mir denn mit dir? Ich habe dazu ein Tool entwickelt, den Loop of Understanding. Beim Loop of Understanding ist es nicht erlaubt, dass ich verstehen will, worum es in deinem Konflikt geht. Sondern du erzählst mir von deinem Konflikt. Immer dann, wenn ich merke, ich kann nichts mehr aufnehmen, hebe ich die Hand und du hörst auf zu sprechen. Ich sage dir, was bei mir angekommen ist. Und du sagst, ob es das ist, was du meinst. Das machen wir so lange, bis wir uns finden.

Wenn ich immer mehr in mir abbilde, wie ich dich erlebe, dann findet Co-Regulation statt. Wenn wir so an unserer Beziehungsstruktur arbeiten, dann gibt es einen Moment, wo dein Nervensystem merkt, dass es mit seinem Befinden in mir einen Abdruck findet. Und dann fühlen wir uns nicht mehr allein.

e: In Konflikten geht es ja auch um Inhalte. Wie siehst du diese Ebene in der Konflikttransformation?

Daniel: Ich sage nicht, dass wir nicht über Inhalte sprechen sollten, aber es braucht die richtige Reihenfolge. Das kennen wir ja alle: Jemand spricht aus einer emotionalen Dringlichkeit und du hast auch eine eigene Dringlichkeit und die treffen dann aufeinander. Wenn viel Dringlichkeit über längere Zeit aufeinandertrifft, ohne dass es Raum gibt, um einander abzubilden, dann entsteht Polarisierung.

Unser Nervensystem merkt ganz genau, ob der andere mich abbilden kann. Es laufen also immer mindestens zwei Gespräche, das eine ist das mental-kognitive und das andere betrifft das Nervensystem. Und diese beiden driften manchmal immer mehr auseinander, und dann wird es schmerzhaft.

Jeder Austausch findet in einer Beziehungsstruktur statt. Wenn unsere gemeinsame Beziehungsstruktur zu eng ist für die Dringlichkeit von dem, was du und ich uns sagen wollen, dann müssen wir nicht probieren, da noch mehr reinzustopfen, sondern dann müssen wir die Beziehungsstruktur erweitern. Das wird häufig vergessen, weil wir so gewohnt sind, uns gegenseitig mit kognitiver Info zu überladen.

e: Du lehrst einen Prozess von Absenz zu Präsenz zu Regeneration. Kannst du diesen Prozess beschreiben?

Daniel: Absenz, Präsenz und Regeneration bezeichnen Nervensystemzustände. Wenn mein emotionales Erleben von der Welt intensiver ist, als ich es integrieren oder gesund umwandeln kann, dann spreche ich von emotionaler Überwältigung. Emotionale Überwältigung ist als Zustand nicht haltbar. In unserer tiefen- biologischen Intelligenz gibt es Notfall- programme, die sich über Jahrmillionen entwickelt haben. Eines davon ist Kontraktion, das heißt, mein Nervensystem dreht mein Fühlen herunter. Die Folge davon ist Absenz. Ich spüre mich nicht mehr und dadurch auch dich nicht. Wenn ich über viele Jahre oder Jahrzehnte oder durch intergenerationale Traumata emotionale Überwältigung eingefroren habe, dann wird die Vergangenheit immer größer. Immer mehr von unseren Nervensystemen ist mit Einfrieren beschäftigt. Ich habe immer weniger Platz, um dich in mir abzubilden. Das ist Absenz.

Präsenz heißt, ich kann, während ich spreche, mein emotionales Erleben von unserem Gespräch live abbilden. Ich gehe dann aus unserem Gespräch raus, ohne dass ich mehr emotionale Überwältigung in mir finde als vorher, weil ich es nachhaltig integrieren konnte, während es passiert.

Das ist die Voraussetzung für Regeneration. Regeneration heißt, dass ich so viel Abbildungsraum in mir habe, dass ich in unserem Gespräch aktiv emotionale Überwältigung abbauen kann. Wenn wir in einem Gespräch berührt sind von dem, was der andere sagt, heißt das, dass wir an einer Stelle, wo wir bisher immer alleine waren, Kontakt erleben. So entsteht ein Gemeinsamkeitsgefühl, durch das wir regeneriert aus der Begegnung gehen, weil wir aktiv emotionale Überwältigung abgebaut haben.

e: Welche Rolle spielt bei diesem Prozess eine spirituelle Verwurzelung oder Praxis?

Daniel: Ein Grund, warum ich mich so sehr auf das Nervensystem fokussiere, liegt darin, dass hier wirkliche Transformation passiert, der ich zusehen kann. Es ist eine Rückbesinnung auf unser biologisches Wesen, was für mich auch mit Spiritualität zusammenhängt. Die menschliche Hybris liegt darin, dass wir uns überhöhen und über das erheben, was vor uns kam und uns möglich macht. Mein Nervensystem ist ja nicht irgendein Ding, es ist meine Heimat, mein Zuhause. Und mein Nervensystem ist in ein anderes Zuhause eingebettet, die Natur. Aus dieser Haltung erlebe ich eine tiefe Demut. Deshalb ist Konflikttransformation im Kern spirituell, weil ich in die tiefere Ordnung des Lebens schaue und sehe, wo mein Platz darin ist.

e: Siehst du in deiner Arbeit auch Impulse für einen anderen Umgang mit Konflikten in der Gesellschaft?

Daniel: Mein Projekt ist, dass es eine kritische Masse von Menschen gibt, die präsent sind, also Emotionen metabolisieren können, während sie auftauchen. Das könnte politische Diskussionen völlig verändern, denn Politik ist zu 80 Prozent emotionale Aktivierung. Wir brauchen Gruppen von Menschen, die andere Kollektive emotional abbilden können. Das wäre auch eine Interventionsmöglichkeit für größere Konflikte wie jetzt zwischen der Ukraine und Russland.

Ein Kollektiv ist ein verbundenes Nervensystem. Wenn wir in unseren Trainings als Gruppe eine immer tiefere Beziehungsmatrix aufbauen, entsteht irgendwann Raum für das, was uns verbindet. In diesem Raum ist so viel Metabolisierungskompetenz, dass tiefere emotionale Schichten der Realität auftauchen können. So kann zum Beispiel kollektives Trauma integriert werden, weil wir tiefere Schichten von kollektiver Kontraktion spüren, abbilden und umwandeln.

Die Idee, dass wir emotionale Überwältigung metabolisieren müssen, ist ja nicht neu. Viele Übungen in der Spiritualität unterstützten individuelle und kollektive emotionale Integration. Was man früher Ritual nannte und heute Prozess nennt, ist ein strukturierter Ablauf, wie wir uns darin unterstützen können. Und erst wenn wir diese Integration durchlaufen haben, können wir uns in der Gegenwart treffen, aus der eine gemeinsame Zukunft entstehen kann.

Zurück
Zurück

Im Konflikt hilft der rationale Diskurs allein nicht weiter

Weiter
Weiter

Organisch Systeme wandeln